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Titel
Gesta, Fama, Scripta. Rheinische Mirakel des Hochmittelalters zwischen Geschichtsdeutung, Erzählung und sozialer Praxis


Autor(en)
Kleine, Uta
Erschienen
Stuttgart 2007: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
481 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Rainer Hugener, Fachbereich Mittelalter, Historisches Seminar der Universität Zürich

Wunder und Wunderberichte stehen derzeit ganz im Zentrum eines kulturgeschichtlich ausgerichteten Interesses an Frömmigkeit und religiösen Vorstellungswelten. In dieses Forschungsfeld reiht sich auch die Dissertation von Uta Kleine ein, die an der Fernuniversität Hagen entstanden ist. Das Besondere an Kleines Arbeit ist, dass sie der sozialen Praxis von Wunderkulten verbindet mit überlieferungsgeschichtlichen und die Untersuchung schriftlichkeitstheoretischen Fragestellungen. Anhand der hochmittelalterlichen Wundersammlungen aus der Erzdiözese Köln fragt sie nach den Beziehungen zwischen «dem sozialen Handlungsfeld (gesta), dem mündlichen Ausdrucksfeld (fama) und dem schriftlichen Gebrauchsfeld (scripta)» (16). In der Oralität sieht sie die «handlungs- und überlieferungslogische Verbindung» (14) zwischen der Kultpraxis und ihrem schriftlich-literarischen Niederschlag im Kultbuch. Im Zentrum ihres Ansatzes steht die These, dass es das Wunder als «soziale Tatsache» (2) ernst zu nehmen gilt; das Herbeiziehen von medizinischen und psychologisierenden Deutungen, mit denen das berichtete Wundergeschehen auf «natürliche» Weise erklärt werden soll, erübrigt sich auf diese Weise.

In der Einleitung erarbeitet und begründet die Autorin ihren eigenen originellen Forschungsansatz auf der Grundlage eines konzisen Überblicks über aktuelle Themen und Tendenzen der Mediävistik. Souverän verortet sie ihre Arbeit zwischen klassischer Sozialgeschichte, historischer Anthropologie und moderner Schriftlichkeitsforschung. Die fundierten Kenntnisse der Autorin widerspiegeln sich in einem beeindruckenden Anmerkungsapparat, der den Horizont weit über die Wunderforschung hinaus öffnet. Umso bedauerlicher ist es, dass sich hier diverse falsche Seiten- und Jahresangaben eingeschlichen haben, wie das Buch überhaupt eine sorgfältigere Schlussredaktion verdient hätte. Diese kleineren formalen Mängel tun der inhaltlichen Qualität der Studie jedoch keinen Abbruch.

Es folgen sechs Einzelstudien, in denen anhand von quellennahen Fallbeispielen unterschiedliche Aspekte rund um das Wundergeschehen erörtert werden. Dieser Teil besticht neben der geschickten Verknüpfung aktueller Fragestellungen mit dem lokalen Quellenmaterial besonders durch seine Methodenvielfalt: Zur Überprüfung bekannter Vorannahmen der Mirakelforschung greift Kleine etwa zur innovativen semantischen Analyse von Begriffsfeldern der menschlichen Sinneswahrnehmungen, zur mittlerweile «klassischen» sozialgeschichtlichen Erfassung der Wunderprotagonisten oder zur traditionellen besitzgeschichtlichen Methode, um allfällige Zusammenhänge zwischen Wunderkult und Klosterbesitz plausibel zu machen. Besonders hervorgehoben wird die Tatsache, dass postmortale Wunder- bzw. Heiligenkulte ihren Ausgang häufig bei Totenmemoria und Trauerritualen haben.

Entgegen einer pauschalen Grundannahme der bisherigen Forschung sieht Kleine die Funktion der lateinischen Wunderberichte weniger in der Kultpropaganda als im «Bereich der monastischen Erinnerungskultur» (254). Auch der wirtschaftliche Nutzen von Wunderkulten sei für ein Kloster angesichts relativ hoher Ausgaben für die liturgische Infrastruktur und nur geringer, unregelmässiger Einnahmemöglichkeiten nicht allzu hoch zu veranschlagen; vernachlässigt wird bei dieser originellen Interpretation allerdings der Zuwachs an symbolischem Kapital. Stattdessen betont Kleine die «weitgehende Kongruenz zwischen kirchlichen Interessen und weltlicher Frömmigkeitspraxis» (270). Denn im Wunderkult würden, so Kleine, die neuen Strömungen einer hochmittelalterlichen Laienfrömmigkeitsbewegung mit den religiösen und herrschaftlichen Ausbaubestrebungen seitens der Kirche verbunden. Durch die Teilhabe am Wundergeschehen in Prozessionen und speziellen Feiertagsritualen sei die Bewohnerschaft der klösterlichen Herrschaftsgebiete einerseits in die liturgisch-religiöse Praxis, andererseits aber auch «in das herrschaftliche und institutionelle Gefüge» (185) stärker eingebunden worden. Denn die Bittgänge zum Lokalheiligen hatten durchaus den Charakter von Huldigungsakten, zumal der Heilige im Verständnis des hochmittelalterlichen Feudalsystems als «Patron» im doppelten Wortsinn wahrgenommen wurde: zum einen als kirchlicher Schutzherr, zum anderen als eigentlicher Besitzer der seiner Kirche gestifteten Güter und Eigenleute.

Zum Schluss unterzieht Kleine ihre sechs Fallbeispiele einem Vergleich, um «im Besonderen das Allgemeine, in den lokalen Eigentümlichkeiten die verbindende Logik des Geschehens sichtbar zu machen» (322). Dabei sind gewisse Redundanzen unvermeidlich. Noch einmal erläutert die Autorin ausführlich, wie über die konkreten Wundertaten («gesta») sich die Kunde von Mund zu Mund verbreitete («fama») und letztlich ihren schriftlichen Niederschlag fand («scripta»). Dieser Prozess darf allerdings nicht als lineare Entwicklung von (volkstümlicher) Mündlichkeit zu (geistlich-gelehrter) Schriftlichkeit missverstanden werden; schon vor dem Verschriftungsprozess kam es zu umfangreichen gegenseitigen Beeinflussungen zwischen Laien und Klerus.

Die Zusammenhänge zwischen Wunderkulten und Herrschaftsausbau, die Kleine in ihrer originellen Neuinterpretation der rheinischen Mirakelsammlungen plausibel machen kann, gilt es in der Wunderforschung künftig vermehrt zu berücksichtigen. Ebenso hat ihre Arbeit gezeigt, wie fruchtbar die Überlegungen aus der Schriftlichkeitsforschung, die analytische Unterscheidung von Herstellung («making»), Gebrauch («using») und Aufbewahrung («keeping») sowie die Beachtung «pragmatischer» Dimensionen von Schriftlichkeit, auch auf die mittelalterliche Mirakelliteratur angewendet werden können. Ohne Einbettung der Schriftstücke in ihre konkreten Entstehungs-, Gebrauchs-, und Überlieferungszusammenhänge wird auch die Wunderforschung künftig nicht mehr auskommen.

Zitierweise:
Rainer Hugener: Rezension zu: Uta Kleine, Gesta, Fama, Scripta. Rheinische Mirakel des Hochmittelalters zwischen Geschichtsdeutung, Erzählung und sozialer Praxis, Stuttgart, Franz Steiner Verlag, 2007. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 103, 2009, S. 308-310.

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